Wer sich im Umbruch befindet, kann nicht umhin zu entscheiden, welchen Weg sie/er einschlagen soll. Während in meiner Kindheit diese Frage so gar nicht existierte, weil „eh irgendwie klar“, scheint die Spannung zwischen dem „Gesollten“, dem „Gewollten“ und dem „Gesagten“ immer größer zu werden. Denn: Was ist mein Entscheidungskriterium? Was zählt letztlich wirklich? Was behält die Oberhand, wenn es ernst wird? Kurzum: Welche Innovation ist langfristig wirklich wertvoll?
Das MEHR als Lösungsmuster für den Erfolg ist in unserer Gesellschaft und den Unternehmen tief verankert. So verschafft uns mehr Gewinn auch mehr Potential für weitere Entwicklungen und das bei geringerem Risiko. Und wenn ein Muster in vielerlei Hinsicht als erfolgreich erkannt wurde, wird es auch möglichst überall verwendet. Doch das hat seine Tücken.
Selbst wenn aufgrund des Preisdrucks ein „Weniger an Inhalt“ das Gebot der Stunde ist, wird es durch die Verpackung kaschiert und ein MEHR oder zumindest ein GLEICH WIE BISHER nur cooler verkauft. Der Aufschrei über „weniger Gipfel“ bei Toblerone im Jahr 2016 in Großbritannien ist dabei nur eines der vielen Beispiele. Unter dem Stichwort Mogelverpackung finden sich dazu unzählige Einträge im Internet. Aber offensichtlich ist das MEHR als „Lösung für alles“ noch immer zentraler Ankerpunkt für das Marketing.
Ausgehend vom einleitenden Cartoon mit den 5 Adventkerzen möchte ich deutlich machen, dass wir gerade in transformativen Phasen einer Branche das MEHR durch ein ANDERS ersetzen sollten (und wahrscheinlich sogar müssen, wenn wir uns selbst nicht gefährden wollen): Es braucht einfach etwas Anderes, weil das Bisherige nicht mehr das relevante Angebot ist! Und dazu ist die erste Frage nach dem WOZU das Ganze überhaupt gut sein soll. Oder anders formuliert: Können wir überhaupt noch einen Mehrwert im Vergleich zu anderen liefern?
Der Cartoon macht das auf eine extrem leichtfüßige Weise deutlich: Wer den Advent feiert, will genau 4 Kerzen, je eine für jeden Adventsonntag; Und das ist gut so, weil es die Vorbereitung auf ein existentielles Ereignis ist – so zumindest für den gläubigen Menschen. Eine 5. Kerze als Sonderangebot ergibt einfach keinen Sinn. Eher es, dass der Anbieter den tieferen Sinn seines Angebots überhaupt nicht begriffen und sich an einer marketing-orientierten Oberfläche verloren hat.
Vielmehr sollte dieses Bild dazu anregen, die Kernfrage zu stellen, welches Anliegen sich darin überhaupt ausdrückt und ob der Adventkranz dafür überhaupt noch die Lösung bietet. Es geht also zuerst um die Frage nach dem WOZU und erst dann um die Frage nach einem ANDERS. Während das ANDERS über die Form (also muss es überhaupt ein Kranz sein) oder auf dessen Ausführung (wieso aus Reisig) beantwortet werden kann, geht das WOZU in einer säkularisierten /säkularisierenden Gesellschaft tiefer und fragt sich, was wir Menschen in dieser sogenannten stillen Zeit wirklich suchen. Dort beginnt wahre Innovation.
Auch wenn das Beispiel auf dem ersten Blick oberflächlich erscheinen mag, so zeigt es eines sehr deutlich: Wirklich wertvolle Innovationen setzen nicht an der Oberfläche[1] an, sondern erkunden, was wirklich das zu befriedigende Anliegen dahinter ist. Nur so bleiben wird dem tieferen Sinn auf der Spur, der jedem erfolgreichen Produkt oder Service zugrunde liegt.
Wieso dieser Zugang zu Innovationen so wichtig ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass gerade Zeiten großer Umbrüche von uns besonders viele, oft grundlegende Veränderungen verlangen und das auch noch in recht kurzen Zeiträumen. Gerade dann stellt sich zwingend die Frage, was wohl aus der Unzahl von möglichen Lösungen nun die richtige sei.[2]
Nachdem meine Artikel zum Nachdenken (eigentlich: Vordenken) anregen sollen, möchte ich hierzu auf die Antwort der amerikanischen Anthropologin Margaret Mead auf eine ganz grundlegende Frage verweisen, nämlich: Welcher Gegenstand kann ihrer Meinung nach als erstes Anzeichen unserer Zivilisation gewertet werden? In dieser Frage geht es also um nichts weniger, als um die erste ultimative Innovation der Menschheitsgeschichte.
Der Student hatte mit seiner Frage wahrscheinlich erwartet, dass sie über einen Tontopf, eine Speerspitze oder vielleicht über eine technische Errungenschaft sprechen wird. Doch sie antwortete nach kurzem Überlegen: „Ein verheilter Knochen.“ Wenn sich ein Tier in der Natur etwas bricht, so ihre Argumentation, dann sind die Überlebenschancen gleich null. Es dauert mehrere Wochen, bis so eine Fraktur wieder zusammenwächst, in dieser Zeit kann es sich weder zu einer Wasserquelle bewegen noch jagen, es wird also verhungern, verdursten oder anderen Tieren zum Opfer fallen. Knochenfunde, die beweisen, dass ein Mensch viele Jahrtausende vor Christus mit einem gebrochenen Oberschenkelknochen überlebt hat, sprechen dafür, dass jemand da gewesen ist, um sich dieser Person anzunehmen. Jemand, der ihr zu essen und zu trinken brachte, der bei ihr blieb und ihr somit die Möglichkeit gab in Ruhe gesund zu werden. Das erste Anzeichen unserer Zivilisation seien demnach keine Waffen oder sonstige Erfindungen, sondern unserer Fähigkeit, uns nicht mehr nur um uns selbst, sondern auch um andere zu sorgen. (Quelle: Annabelle Hirsch, Die Dinge)
Ich wünsche Ihnen/Dir bei allen Entscheidungen diesen klaren Blick darauf, welche Innovationen sich letztlich wirklich lohnen werden. Denn mit diesem Zugang bleiben wir nicht auf der erstbesten offensichtlichen Lösung hängen, die ohnehin alle anderen bringen werden (und das meist rascher und billiger als wir!), sondern wir schaffen damit weit mehr als einen nachhaltigen Erfolg für uns selbst. Denn solche Innovationen bringen immer einen Mehrwert für möglichst viele:
Menschen verbinden ∞ Zukunft gestalten
Ihr Dr. Kurt Schauer
[1] Das lateinische Wort „imago“ mit der Bedeutung von „Abbild“ und „Ansicht“, verweist ja schon im Wortstamm für den Begriff Marketing auf die „Oberfläche“. Damit unterscheidet sich ein marketing-orientierter Zugang ganz grundsätzlich von einem strategischen. Daher ist Vorsicht geboten, wenn die Strategie vorwiegend vom Marketing entwickelt wird.
[2] Wie sich dieser Druck in Richtung vieler Entscheidungen ohne Orientierung auswirkt, zeigt sich in vielfältiger Weise in unseren Organisationen: Von der Verweigerung Verantwortung übernehmen zu wollen bis hin zum Burnout oder Rückgriff auf nicht mehr funktionale Antworten.