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Nicht einmal das eigene Auge kann alles sehen, was vor ihm liegt. Vielmehr füllt das Gehirn diesen blinden Fleck einfach auf. Und genauso ist es in jeder Organisation, jeder Familie, jeder Region, jedem Kulturkreis: Wir können nicht sehen, was wir „kulturell“ nicht sehen wollen. Tritt das Unerwartete dann ein, reagieren wir ungläubig und übersehen dabei völlig, dass es nur an uns gelegen hat.
„Den eigenen blinden Fleck zu erkennen ist eine Lebensaufgabe! Den blinden Fleck des eigenen Auges zu erleben, ist ganz einfach.“
Immer dann, wenn etwas Unerwartetes passiert, stellt sich für viele die Frage, ob wir etwas übersehen oder falsch eingeschätzt haben. Wir machen uns dann gerne Vorwürfe, wieso wir nicht genauer hingesehen haben und versichern uns selbst und den anderen dies beim nächsten Mal aber „wirklich“ zu tun. Dabei liegt der Grund meist oft ganz woanders: Selbst wenn wir genau hinschauen, so können wir doch nur das sehen, was uns unsere Sinne, unsere Werte, unsere Vorurteile überhaupt sehen lassen.

Und das beginnt schon beim Aufbau unseres Auges selbst. Durch den blinden Fleck – also jene Stelle, wo der Sehnerv durch die Netzhaut aus dem Augapfel herausgeführt wird - gibt es schlicht keine Zellen, die das Licht auffangen könnten. Wir können dort nichts sehen. Damit wir in unserer Wahrnehmung keinen „schwarzen“ Fleck vorfinden, füllt unser Gehirn diese Leerstelle einfach auf und zwar mit dem, was das unmittelbare Umfeld erwarten lässt. Das Gehirn ist sozusagen auf Kontinuität getrimmt, weil das ja in den meisten Fällen auch die wahrscheinlichste Antwort sein wird.

Sie können das ganz leicht selbst austesten:
Halten Sie sich das linke Auge zu und konzentrieren Sie sich auf den runden Kreis des obigen Bildes. Bewegen Sie nun das Bild vor und zurück. Genau dann, wenn der Stern auf den blinden Fleck fällt, verschwindet er plötzlich. Wenn Sie dasselbe mit dem gelben Bild daneben machen, verschwindet nicht nur der Stern, sondern die Fläche wird „quasi“ gelb aufgefüllt. Das Gehirn erfindet sozusagen das Passende dazu! Wenn man es das erste Mal erlebt, ist das ein wirklich irritierendes Erlebnis.
Was möglicherweise für Sie wie ein Gag aus dem Biologie-Unterricht daherkommt, soll uns nur eines zeigen: Der Stern ist niemals verschwunden gewesen, die gelbe Farbe war niemals an dieser Stelle und trotzdem konnten wir unter diesen speziellen Bedingungen das eine nicht sehen, obwohl es da war, und das andere sehr wohl sehen, obwohl es niemals vorhanden war.

Wenn wir das auf die viel komplexeren Fragestellungen in unseren Organisationen selbst oder in unseren Märkten übertragen, oder gar auf unseren Zugang zu Innovationen, neuen Technologien oder Prozessen, zeigt sich, dass wir diesem Phänomen des blinden Flecks auch dort in analoger Weise ganz zwangsweise unterliegen. Wir sehen schlicht und ergreifend vorwiegend oder ausschließlich nur, was wir in die unerwünschte(n) Leerstelle(n) extrapolieren, also letztlich das, das wir gerne hätten und nicht, was wirklich dort ist. Um im obigen Vergleich zu bleiben. Es wird alles Gelb! Oder wie der Volksmund sagt: Für einen Hammer ist alles ein Nagel! Eine fatale Fehleinschätzung, wie sich immer wieder im Kleinen und Großen zeigt!

Umso wichtiger ist es, unterschiedliche Standpunkte und Perspektiven einzunehmen, sich mit „ganz“ anderen Menschen auszutauschen, die eigenen Werte und die Unternehmenswerte zu hinterfragen, bewusst scheinbare „Gegenpositionen“ einzubeziehen, abstruse Argumente probehalber für gültig zu erachten, … schlicht anzuerkennen, dass es ganz andere Zugänge gibt und andere Menschen diese aus - für uns meist nicht erkennbaren und akzeptierbaren - guten Gründen auch einnehmen.

Manchmal ist genau das meine Rolle als externer Prozessbegleiter: Sie dabei zu unterstützen, die blinden Flecken aufzudecken, um dadurch die Wirklichkeit besser zu verstehen und den Bereich des Unbekannten und damit Unerwarteten kleiner zu machen. Statt sich in der trügerischen Sicherheit des eigenen blinden Flecks zu sonnen und in falscher Sicherheit zu wiegen, Zukunft in all ihrer Buntheit und Vielfalt anzunehmen und auch so zu gestalten!

Ihr Kurt Schauer
Beilage: Die beiden Bilder zum Erleben des eigenen blinden Flecks können Sie ausdrucken und in der Mitte falten. Zuerst wie oben beschrieben mit dem weißen Bild beginnen. Dann auf der Rückseite mit dem gelben Bild dieses „Wunder“ erleben, das durch unser Gehirn erzeugt wird. Und staunen! Denn: So einfach gehen wir der Wirklichkeit auf den Leim … und sehen es nicht einmal! Wer den blinden Fleck nicht berücksichtigt, wird oft die Dinge erst sehen wie sie sind, wenn es zu spät ist oder wenn es bereits sehr schmerzhaft wird!

Publikation

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Der blinde Fleck und das Unerwartete
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